Was sollen die Eskimos tun?

Widerlegung eines Scheinarguments

Eine häufig gestellte Frage, mit der versucht werden soll, die Jagd oder allgemein das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken, vor allem das eigene Verhalten, das die Ursache dafür ist, zu rechtfertigen, ist dies: »Was sollen denn die Eskimos tun, sie können schließlich kein Gemüse anpflanzen?« Es wäre, selbst wenn es irgendwo eine Gruppe von Menschen gäbe, die nicht vegan leben kann, keine Rechtfertigung dafür, hier und jetzt Tiere zu töten, denn die Existenz veganer Menschen beweist, das es eben hier und jetzt sehr wohl möglich ist, vegan zu leben. Ebensowenig ist ein hypothetischer Flugzeugabsturz in den Anden, bei dem einige Passagiere gezwungen sein sollen, die anderen zu essen, eine Rechtfertigung für Kannibalismus. Denn das Bild des Inuk (so lautet die politisch korrekte Bezeichnung für einen Inuit, die so viel wie »der Überlegene« bedeutet), der mit einem Speer aus Walknochen vor seinem Iglu an einem Eisloch sitzt, um sein Überleben zu sichern, hat mit der heutigen Realität nichts gemein. Um diesen Irrglauben aufzuzeigen, entstand folgende Erzählung.

Packeis

Wenn du ein Zebra
in den weißen Streifen schießt,
stirbt der schwarze mit ihm.

Afrikanisches Sprichwort

Die gleißenden Eisbergkuppen schienen im Licht der blendenden Sonne zu glühen. Die See war fast frei von Schollen, und das Inuak glitt speerschnell dahin, während die trägen Wogen es kaum spürbar sanft auf und ab hoben. Nur gelegentlich bohrte der Bug sich in einen hohen Wellenkamm, so daß ein feiner Sprühregen Gischt aufstob, der auf der Spiere zu glitzerndem Eis gefror.

Es war herrlich, so übers türkise Wasser zu gleiten, allein, unter sich nur die Tiefen des Ozeans, die edle Jagd auf den Spuren der Alten fortzuführen. Der Sturm hatte fast das ganze Packeis aufs offene Meer hinausgetrieben, so daß Anaittuq leicht vorankam.

Um den Hals trug er an einer Schnur aus Robbendarm ein Tupilak, einen aus Walbein geschnitzten Eisbären, der noch von seinem Großvater Aqjangajuk stammte. Es mußte einer der letzten lebenden Grönlandwale gewesen sein. Was für Zeiten das gewesen waren! In den fetten Jahren hatten sie alles erlegt, was ihnen vor die Augen kam, nur die größten Leckerbissen verzehrt, vielleicht ein paar Streifen schwarzen Seehundfleisches auf hölzernen Gestängen getrocknet und den Rest haufenweise verfaulen lassen, Ringel- und Kaisergänse, Eis- und Eiderenten, Kraniche, Teile von Robben und Walrossen, die zwischen Exkrementen und ausgedienten Gerätschaften um die Sommerzelte verstreut waren, Blubber, zäher Walroßspeck, der an den Füßen klebte. Doch den Gestank von Kot, Urin, verdorbenem Fleisch, Eingeweiden, blutverschmierten Fellen kannte Anaittuq nur noch aus Erzählungen; immer stärker wurden sie eingeschränkt durch unsinnige Abschußquoten, als ob nicht für jeden toten Hasen ein paar Tagesreisen weiter ein halbes Dutzend neue geworfen würden. Die Kraslunaks, die Weißen, verstanden das Leben der Inuit, der Überlegenen, nicht, sie würden nie begreifen, was es hieß, im Einklang mit der allbeseelten Natur zu leben, über das tiefblaue Wasser zu streifen, eingemummt in den Anorak die kalte Nase in den eisigen Wind zu stecken, frei zu sein. Frei wie der Schwarm großer Alke, der über ihn hinwegzog.

Anaittuq erspähte eine zum Atmen aufgetauchte Robbe, fuhr langsamer, näherte sich ihr vorsichtig. Es war ein Walroß, erkannte er, ein großer Bulle mit borstigem Schnauzbart, wohl an die zwanzig Zentner schwer. Das Wasser war so kalt, daß seine Haut blaß, fast weiß war.

Mit einen scharfen »tschak!« fuhr die Harpune aus dem Speerwurfbrett gegen das Tier, die Leine rollte sich aus. Die Robbe heulte auf, ein lauter Protestschrei. Anaittuq fühlte seine Erektion, während er sah, daß der Vorschaft in der Vorschafthülle abknickte, der Harpunenkopf, durch dessen Leinenloch das Seil gezogen war, sich löste. Das Walroß versuchte durch Tauchen zu entkommen, doch der Widerhaken steckte fest. Der Jäger warf die Schwimmblase am anderen Ende der Leine über Bord.

Der Koloß tauchte fast senkrecht ab, der Schwimmer rührte sich kaum von der Stelle. Der Inuk holte den Harpunenschaft ein und folgte ihm gemächlich. Nun mußte er nur noch warten, bis dem Bullen die Luft ausging. Die mächtigen Hauer waren armlang und brachten sicher sechs Pfund auf die Waage, eine Menge Elfenbein. Damit würde das Tier nie mehr den Grund aufwühlen, um Muscheln und Krebse zu suchen.

Immerhin waren die Inuit die einzigen, die noch Walrosse jagen durften. Oh, auch früher war nicht alles eitel Sonnenschein gewesen, doch selbst sein Großvater hatte die Jahre, in denen sie so sehr hungerten, daß sie neben ein paar kläglichen Schneehasen und -hühnern und mageren Hunden Seehundfelljacken und sogar ihre eigenen Kinder verzehrten, nur aus alten Geschichten gekannt, die abends am Feuer erzählt wurden. Der indianische Schimpfname, esquimatjik, Rohfleischesser, aus dem die Kraslunaks Eskimo gemacht hatten, wirkte dagegen fast harmlos.

Prustend tauchte das Walroß auf, der Jäger schoß und traf. Das Tier sackte nach hinten, krängte vom Tran getragen. Langsam manövrierte er das Boot zur treibenden Beute. Mit einem dumpfen Laut stieß der Leib gegen die Wandung. Der Inuk vertäute den leblosen Körper. Dann fuhr er rasch auf die Küste zu, auf Abertausende kleiner Krabbentaucher. Manche der Vögel waren so vollgefressen, daß sie kaum fliegen konnten, wühlten zeternd das Meer auf, als sein Inuak zwischen ihnen hindurchglitt. Das Luftkissenboot ruckte nur kurz, als es vom brodelnden Wasser aufs Meereis fuhr. Anaittuq hielt an. Ein paar Möwen am Himmel beäugten ihn neugierig, hofften, daß etwas für sie abfallen würde. Das Wasser plätscherte leicht gegen das Eis am Ufer. Er schaltete den Monitor seiner Harpune aus, um die Batterien zu schonen, deaktivierte den Propulsor und klappte ihn ein. Mit dem Kran hievte er das tonnenschwere Tier an Bord, dann zog er übers Eis weiter. Wasserspalten, früher gefürchtet und oft tödlich, stellten für sein Inuak kein Hindernis dar. Die Vibrationen des Motors versetzten den riesigen Leib der Beute in Schwingung, Wellen liefen über die dicke Fettschicht unter der Haut, als ob das Tier noch lebte.

Eine gute Stunde später saß Anaittuq im gemütlich warmen Wohnzimmer vor der Fernsehwand. Er hatte geduscht, jetzt zog er die Lasche von der zweiten Dose Bier und ließ die Flüssigkeit durch seine Kehle rinnen. Eine Werbeunterbrechung begann, er stand auf, ging in die Küche, riß die Aluverpackung von einem Fertiggericht und schob es in die Mikrowelle. Drei Minuten später piepste der Herd, Anaittuq nahm das heiße Essen heraus, griff nach dem Besteck, kehrte ins Wohnzimmer zurück und stellte die dampfende Schale auf den Tisch. Die Werbung war in diesem Augenblick vorüber, der Dokumentarfilm, Abschluß einer dreizehnteiligen Reihe über Alaska, lief weiter. Sie gefiel Anaittuq sehr, in jeder bisherigen Folge war bewundernd über die traditionelle Jagd der Inuit gesprochen worden. Auf dem Schirm zogen die Jäger einen großen Grönlandwal mit einem Seil an Land. Anaittuq bemerkte, daß die Aufnahmen nicht neu waren, die Gewehre, die an den Motorbooten lehnten, und die Boote selbst, waren hoffnungslos veraltet. Das ganze Dorf half mit, Frauen und Kinder zerrten am Seil. Haut und Muskulatur der Schwanzflosse rissen, und der tote Wal glitt ein Stück zurück ins Wasser, spannenweit nur, als versuchte er ein letztes Mal zu entkommen.

Die Jagd hatte Anaittuq hungrig gemacht, und er stieß seine Gabel in das heiße, ketchuptriefende Karibusteak.

September 1995

Dies ist fiktive Geschichte, doch wie so oft wurde sie von der Wirklichkeit eingeholt.

In der Dokumentation »Von Pelzen und Politik« (Arte, 11.1.1996) äußerte sich ein Jäger so: »Warum gehen wir Ureinwohner auf die Jagd nach Fellen? Warum müssen wir Fallen aufstellen? Aus einem einfachen Grund: Die Menschen unserer heutigen indianischen Jagdgesellschaften brauchen auch etwas Geld zum Überleben. Z.B. um Benzin zu kaufen. Das brauchen wir wiederum, um auf die Jagd nach Nahrung gehen zu können.« Jagen um Geld zu bekommen um Benzin zu kaufen um zu Jagen.

Im Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 5, 30.1.98, berichtet Rosabelle Kunnanna Rexford, 56 (sie gehört nach Angaben des Magazins zur Gruppe der Iñupiat-Eskimos in der nördlichsten Region Alaskas) aus ihrem Leben.

Jagen als notwendiger Nahrungserwerb? Rexford entlarvt dieses Scheinargument: »Ein Mann, der nicht jagen kann, kommt für mich nicht in Frage! [...] Mein zweiter Mann ist vor 22 Jahren gestorben. Wir sind immer zusammen auf die Jagd gegangen. [...] Zum Glück kann ich auch ohne ihn auf die Jagd gehen. Wenn ich nicht jagen könnte, würde ich mich wie gelähmt fühlen. Ich wäre der einsamste Mensch auf der Welt.« Doch daß sie Ernährung nicht als Grund für die Jagd vorschiebt, bedeutet noch nicht, daß sie unblutige Nahrung haben könnte. »Wir brauchen nur im Sommer Kühlschränke«, erklärt sie. In denen jedoch nicht nur Leichenteile gelagert werden könnten, sondern auch Lebensmittel. Aber wir würden schließlich nie Trauben aus Chile, Gurken aus Spanien, Bananen von den Kanaren, Salat aus Holland oder Erdnüsse aus Amerika importieren, das wäre viel zu umweltschädlich, und das kann in Alaska ebenfalls niemandem zugemutet werden: »Ich liebe das Fischen. Manchmal fliege ich dafür extra irgendwohin. [...] Bei uns in der Nähe gibt es ja nur das Meer. Wenn wir mal Süßwasserfisch angeln wollen, müssen wir ins Landesinnere. Aber wir jagen dann auch gleich Karibus und Füchse. [...] Wir können nur fliegen, wenn wir genügend Geld haben. Ein Flug kostet 75 Dollar. Oder wir chartern zu viert ein Flugzeug, dann ist es billiger. Andererseits: Das Fell eines Raubmarders bringt dreihundert Dollar. [...] Ich gehöre zur Presbyterianischen Kirche. [...] Ich bete auch zu [Gott], wenn ich Wale jage. Ich bitte ihn dann um eine ruhige See und daß die Wale nahe ans Ufer schwimmen, damit wir sie schießen können.« Ein Ende des Tötens ist nicht abzusehen: »Ich zeige meinen Enkelkindern gerade, wie man Kleintiere und Gänse jagt.« Und einmal sagt sie: »Ich liebe Fisch.« Eine tödliche Liebe.

(»Packeis« ist zuerst erschienen in »Virulente Wirklichkeiten«, dot-Verlag, Frankfurt, 1997)

Autor:Achim Stößer
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